„Eine neue Liebe?“

 

Alles auf Anfang oder frei nach Stanislawski: Wir drücken die Resettaste - für die Gegengerade. Bei dem Gedanken wird der Klos, der schon seit Tagen in meinem Hals wächst, noch größer. Dabei ging der Verein bisher beim Stadionbau mit meiner Psyche recht behutsam um: Ich durfte für jedeTribüne, die einem Neubau weichen musste, 2 Jahre Trauerarbeit leisten. Andernorts werden liebgewonnene Traditionstätten in wenigen Wochen abgerissen.

 

Aber jetzt sind die Verantwortlichen eindeutig zu weit gegangen! Heute öffnet die „längste Stehtribüne Europas“ mit 13.000 Zuschauern ihre Pforten. Selbst in der Weltpokalsiegerbesiegeraufstiegssaison Ende der 90er Jahre wurde so manches Spiel am Millerntor vor kaum mehr Zuschauern ausgetragen. Nun finden wir uns alle auf einer Tribüne wieder und geben den Platz frei für ein neues zahlungskräftiges Publikum. Man bekommt am Millerntor nämlich richtig was geboten für sein Geld. Während der Logen- und Businesskundschaft auf den Haupttribünen anderer Stadien eine langweilige Sitztribüne vorgesetzt wird, gibt es am Millerntor zukünftig Frontaluntericht in Sachen Stimmungsmache - von den 10.000 Stehplätzen der Gegengeraden.

 

Aber ob das nicht zu kurz gedacht ist? 10.000 stehende Besserwisser hinter der Trainerbank machen die Arbeit für den Trainerstab nicht eben leichter. Überall sonst kann das Personal in der Coaching-Zone vor dem als zurückhaltend empfundenen Publikum der Haupttribünen konzentriert seiner Arbeit nachgehen. Schon im Dezember gab es vor der mit 6.000 Zuschauern nur provisorisch besetzten Gegengeraden einen ersten Zwischenfall: Bene, Floh und Ebbe hatten in der Halbzeitpause die gute Idee Altfans auf der Gegengeraden mit gezielten Schneeballwürfen aus ihrer selbstgewählten Lethargie zu holen. Doch der Funke sprang nicht vom Platz auf die Ränge über. Die Spieler mussten sich vor einem Proteststurm aus Schneebällen unter die Trainerbank flüchten und Schmähgesänge der eigenen Fans ertragen: „Ihr seid nur Auswechselspieler“ und besonders niederträchtig „Ey, Bene, Du fängst ja nicht mal `nen Scheeball!“. Dieses Fanfehlverhalten kann ich nicht unter den Deckmantel der Ironie  kehren. Danach folgten drei Gegentore in Halbzeit Zwei. Das ging schon mal nach hinten los.

 

Ein wenig ermutigendes Gespräch hatte ich auch nach einer abendlichen Stadionführung mit den Stahlbauern. Beim Feierabendbier im Clubheim wurde ich aufgeklärt: „So ein Dach haben wir noch nie gebaut“ und das sei „von der Konstruktion her weltweit einmalig“. Diese Infomationen waren nicht unbedingt dazu geeignet mein Vetrauen in den Neubau zu stärken, denn bis dato hörte ich aus meinem Umfeld häufig: „Wie das Dach halten soll, werde ich nie verstehen“. Deshalb möchte ich trotz gegenteiliger Aufrufe aus der Fanszene eindringlich darum bitten, es heute akkustisch nicht krachen zu lassen. Bitte begegnet dem „You’ll never walk alone“ kurz vor Anpfiff mit der gewohnten Zurückhaltung. Andernfalls weiß ich auf der Gegengeraden nicht, wie ich die Sekunden nach dem ersten „Aux Armes“ von der Südtribüne nervlich überstehen soll.